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Rassismus im Alltag – Sind wir alle Rassist*innen?

Auf einem auge blind? Wo beginnt Rassismus?

Gestern fuhr ich in der Berliner U-Bahn und beobachtete folgende Szene: Ein junger Mann – etwa Mitte 20 – stieg in die Bahn ein und setzte sich in einen freien Vierer gegenüber von einer älteren Dame. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis die Dame offensichtlich nervös wurde und sich an ihrer Handtasche festklammerte. Etwa eine Minute später stand sie auf und stellte sich für die restlichen zwei Haltestellen an die Tür, obwohl sie offensichtlich schlecht zu Fuß war. Was war passiert? Ganz einfach: Der junge Mann hatte eine dunkle Hautfarbe – und die Frau war offensichtlich eine Rassistin. Aber kann man das wirklich so einfach sagen? Sind nur Menschen, die so offensichtliche Vorurteile gegen People of Color hegen, wie die eben beschriebene Dame, Rassist*innen?

In diesem Moment habe ich mein eigenes Denken und Handeln hinterfragt und mir selbst die Frage gestellt, was ich getan hätte, hätte sich der Mann zu mir in den Vierer gesetzt. Ich würde mich selbst eigentlich nicht als Rassisten bezeichnen. Ich bin ein weltoffener Mensch und weiß die Vielfalt der Kultur zu schätzen, die in Berlin herrscht. Dennoch musste ich feststellen, dass auch ich bei manchen Personen automatisch Vorurteile habe oder meinen Geldbeutel etwas fester in die Tasche schiebe, wenn ich ihnen auf der Straße begegne. Sicher hätte ich mich nicht von dem jungen Mann weggesetzt, eventuell hätte ich mich aber kurz gefragt, woher er kommt, ob er Flüchtling ist oder ob er vielleicht schon straffällig geworden ist. Diese Fragen hätte ich mir bei einem gleichaltrigen Mann mit weißer Hautfarbe sicher nicht gestellt.

Und darum ist fraglich, ob Rassismus nicht schon da beginnt, wo wir Unterschiede zwischen Menschen machen.

Wo beginnt Rassismus?

Offensichtliche Rassist*innen wie Angehörige der NPD oder AfD erkennen wir leicht. Sie äußern offen und unmissverständlich ihre Abneigung gegen Menschen anderer Hautfarbe, Kultur oder Staatsangehörigkeit. Sie vermitteln klar, dass es Ihnen am liebsten wäre, diese Menschen würden nicht in „unser“ Land kommen.

Aber so einfach ist das nicht mit dem Rassismus. Täglich begegnen People of Color im Alltag kleinen und großen rassistischen Äußerungen, Gesten und Taten. Versetzen wir uns doch nur einmal in die Lage des jungen Mannes aus der U-Bahn. Vielleicht war er auf dem Heimweg von einem langen Arbeitstag. Müde setzt er sich auf einen freien Sitzplatz und prompt wird sein Gegenüber unruhig. Seine Anwesenheit scheint die alte Dame so zu stressen, dass sie letztendlich lieber steht, als in seiner Nähe zu sitzen. Wie würde ich mich in so einer Situation fühlen? Sicher nicht gut! Menschen geben anderen Menschen gar nicht erst die Chance, sich selbst zu beweisen, den eigenen Charakter zu zeigen oder sich gegenseitig kennenzulernen – und das nur aufgrund eines angeborenen und unabänderlichen Merkmals, nämlich der Hautfarbe.

Nicht nur in der Öffentlichkeit, auch im Bekanntenkreis trifft man immer wieder auf rassistische Äußerungen. Sei es der Opa, der sich ungeniert über die wachsenden Flüchtlingszahlen oder Gewalt von Ausländer*innen beschwert oder die Tante, die immer noch nicht begriffen hat, dass die beliebte Süßigkeit inzwischen Schokokuss genannt wird.

Diese Äußerungen versetzen uns in eine unangenehme Lage, wir bekommen vielleicht ein kleines Ziehen in der Magengegend, aber wir wissen auch nicht, wie wir damit umgehen sollen. Schließlich ist es ja der eigene Opa, der ist ja schon alt oder die Tante, die sich in einer Diskussion sowieso nichts sagen lässt. Und die Stimmung wollen wir schließlich auch nicht vermiesen.

Noch schlimmer sind jedoch rassistische Äußerungen, die in scheinbare Komplimente verpackt werden. So etwas wie „trotz deiner Hautfarbe“ oder „trotz deiner Herkunft“ verletzt People of Color verständlicherweise sehr. Leistung im Kontext der Hautfarbe zu sehen ist sowieso unbegreiflich und wissenschaftlich nicht haltbar.

Manche Menschen mit weißer Hautfarbe greifen People of Color sogar ungefragt in die Haare oder an die Haut. Sie begründen das mit Neugierde und doch behandeln sie diese Menschen so, als wären sie weniger wert oder hätten kein Recht auf Selbstbestimmung über ihren eigenen Körper.

Langsam wird mir während meiner Recherchen klar, wie vielschichtig Rassismus ist – und dass es eben nicht nur um offensichtlich rassistische Parolen geht, sondern auch um Alltagshandlungen und Denkweisen, die einen Unterschied zwischen Menschen nur aufgrund ihrer Hautfarbe machen.

Rassismus in der Kultur

Wer denkt, heutzutage wäre die Kultur und das, was wir unseren Kindern zeigen, sensibilisiert auf das Thema Rassismus, der liegt falsch. Auch mir wurde zum Teil erst während meiner Recherchen klar, wie rassistisch eigentlich einige meiner Kindheitsheld*innen sind. Ich lasse die Beispiele Pippi Langstrumpf, Jim Knopf und Mickey Maus einfach einmal im Raum stehen. Wie kann es sein, dass wir unseren Kindern immer noch solche Inhalte präsentieren? Klar, sie sind einer anderen Zeit entsprungen, einer Zeit in der das Thema Rassismus noch nicht so in der Öffentlichkeit diskutiert wurde wie heute. Aber wie sollen das neunjährige Kinder reflektieren. Wohl kaum ein Elternteil wird sich mit seinem Kind vor den Fernseher setzen und ihm erklären, dass die eine oder andere Szene rassistisch ist und was das bedeutet. Das schlimme daran ist, dass sich Erlebnisse oder Denkweisen unserer Kindheit fest in unser Gedächtnis einbrennen und sich in unserem Tun und Denken manifestieren. Einstellungen und Haltungen später in der Schule oder durch Erziehung zu ändern, ist kaum möglich und mit viel Arbeit und Aufwand verbunden. Warum also streichen wir solche Inhalte nicht gänzlich aus dem Repertoire für unsere Kinder?

Und dann können wir gleich beginnen, andere „Kulturgüter“ zu hinterfragen. Zahllose Autor*innen, Sänger*innen, Regisseur*innen und Komponist*innen verwendeten rassistische Inhalte in ihren Werken und viele davon sind heute immer noch unhinterfragt im Umlauf.

Wird es nicht langsam Zeit, auf solche Probleme hinzuweisen und diese Veröffentlichungen, wenn es nicht anders geht, aus dem täglichen Leben zu verbannen?

Kultur repräsentiert schließlich immer das Denken, Handeln und die Einstellung einer Generation, Zeit oder Gesellschaft. Schließlich wollen wir nicht, dass uns spätere Generationen als Rassist*innen kennenlernen und in Erinnerung behalten. Es wird Zeit, den Anfang zu machen und Rassismus schrittweise aus dem Alltag zu verdrängen.

Bin ich nun Rassist*in und was kann ich dagegen tun?

Sich einzugestehen, dass man auch selbst rassistische Denkmuster oder Verhaltensweisen aufweist, ist der erste Schritt in die richtige Richtung. Wer das ignoriert oder gar verleugnet, der liegt falsch. Fast jeder Mensch mit weißen Privilegien, der nicht weiß, wie es ist, wenn man nicht mit diesen Vorteilen aufgewachsen ist, zeigt hin und wieder rassistische Züge. Diese können anerzogen oder erworben sein und es ist wichtig, diese zu erkennen. Das eigene Denken und Handeln zu hinterfragen hilft, um rassistische Züge ausfindig zu machen. Warum denke ich gerade darüber nach, woher diese Person kommt? Warum wechsle ich die Straßenseite, wenn mir diese Person begegnet? Warum verunsichert mich das Bild einer schwarzen Frau im Aldi-Prospekt?

Ganz wichtig ist es, sich mit Fakten zu diesem Thema zu beschäftigen. Biografien von People of Color zu lesen, sich mit Alltagsrassismus zu befassen oder mit Menschen aus dem Umkreis über diese Thematik zu diskutieren sind wichtige erste Schritte. Außerdem kann man Menschen aus dem Bekanntenkreis mit Migrationshintergrund fragen, wie sie den Rassismus in Deutschland erleben, um festzustellen, dass dieser wirklich in nächster Nähe zu finden ist.

Und dann sollte man selbst beginnen, immer wieder in die Konfrontation zu gehen, wenn man offensichtlichen Rassismus feststellt und die bloßen Vermutungen dieser Personen mit Fakten und Inhalten nichtig zu machen.

Mehr zum Thema findet Ihr hier:

Cancel Culture – Es wird schmerzhaft. Kinderbücher, Filme, Popmusik, Karneval: Rassismus ist tief verwurzelt in unserer Kultur. Löschen kann man ihn nicht. Aber mit welchen Methoden ist er überwindbar? Ein Essay von Georg Seeßlen. – erschienen bei ZEITonline am 30.06.2020.

»Ich will nicht deine Schokolade sein«. Ein Artikel von Charlene Rautenberg. – erschienen im Magazin der SZ am 19.01.2019.

Mehr als ein blödes Gefühl. Rassismus im Alltag hat viele Gesichter von Anne Baier. – Podcast erschienen am 16.01.2020 bei hr-INFO.

Stereotype in deutschen Schulbüchern. Wenn Menschen in Afrika in Strohhütten leben. – Josephine Apraku im Gespräch mit Frank Meyer am 05.08.2020 bei Deutschlandfunk Kultur.